Frohe Weihnachten

— Ein kleines Geschenk für euch —

Ich wünsche euch allen entspannte Feiertage mit euren liebsten Menschen, den spannendsten Büchern und dem leckersten Essen! Als kleines Weihnachtsgeschenk habe ich euch einen Sneak-Peak in „Schattenschwinge – Teil 2 der Vogelwandler-Dilogie“ mitgebracht. Achtung: enthält Spoiler zu „Funkenfeder – Teil 1 der Vogelwandler-Dilogie“.


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Als Ria sich Weimar näherte, hatte die Sonne sie eingeholt und tauchte alles in rotes Licht. Das Buchenwald-Mahnmal war das Erste, was sie sah. Wie ein drohend ausgestreckter Zeigefinger erhob es sich aus dem Herbstwald. Dann flog Ria über die letzte Hügelkuppe und unter ihr lag die Stadt, die ihr noch vor kurzem ihr Zuhause gewesen war.
Sie sank hinab und als die dunkle Schneise des Ilmparks unter ihr vorbeizog, machte ihr Herz einen freudigen Satz. In flammenden Orangetönen reflektierte das glänzende Band der Ilm die Sonne. Ria erblickte das Römische Haus und automatisch suchten ihre Augen nach dem Ort, an dem Lily und sie sich das erste Mal geküsst hatten. Sie flog eine Schleife und entdeckte die Shakespearstatue.
Jetzt gab es kein Halten mehr. Mit aufgeregt schlagendem Herzen wandte sie sich Richtung Innenstadt. Die zwei Türme der Herder- und Herz-Jesu-Kirche wiesen ihr den Weg, aber sie wusste, sie hätte ihn auch so gefunden. Obwohl sie in ihrem vorherigen Leben nur selten geflogen war, hatte sich das Muster der Stadt in ihr Gedächtnis eingebrannt. Ria flog am Goethe-Haus vorbei, bog in die Schillerstraße ein und ließ sich von ihr zur Villa Federklaue leiten. Sie verharrte davor mit schlagenden Flügeln in der Luft. Das Haus sah genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte: der hufeisenförmige Giebel, verschnörkelte Gauben und Erker und dort auf der anderen Seite lugte die Spitze des Fliederbusches von der Terrasse herüber. Nur die Fensterfront des Wohnzimmers war neu verglast.
Mit einem kräftigen Flügelschlag überwand Ria die letzten Meter, die sie von der Federklaue trennten. Sie landete auf der Terrasse, verwandelte sich und duckte sich instinktiv.
Jetzt, da sie hier war, zögerte Ria. Sie stand vor der Terrassentür und atmete schwer. Tausend dunkle Szenarien wirbelten durch ihren Kopf. Was, wenn das hier ein riesengroßer Fehler war? Was, wenn ihr zweites Leben in der Federklaue für immer von Furcht und Tod bestimmt sein würde? Sollte sie besser für immer aus Weimar verschwinden? Aber mit jedem Atemzug lösten sich die Verspannungen in ihrer Brust. Die Luft roch erdig und feucht nach Herbst und Veränderung. Dazwischen mischten sich weitere Düfte: Der schwere Geruch der verrottenden Fliederblüten, die im Gitter des Terrassenbodens hingen. Ein Hauch von frisch gebackenem Brot, der aus der Bäckerei in der Schützengasse emporstieg. Und eine feine Nuance Kardamom. Die finsteren Gedanken verstummten und stattdessen breitete sich prickelnde Leere in ihr aus. Sie richtete sich auf und atmete ein letztes mal durch, um das mulmige Gefühl in ihrem Magen zu beruhigen. Schließlich gab sie sich einen Ruck und drückte die Türklinke.
Wie immer war die Terrassentür nicht abgeschlossen. Zaghaft setzte Ria einen ersten Schritt ins Gebäude. Noch ein Schritt weiter und sie konnte in den Korridor schauen. Alles war dunkel und still.
Prüfend legte sie das Ohr an die Tür zu Ronjas und Max’ Zimmer, aber kein Atemzug war zu hören. Vielleicht waren die Kinder schon beim Frühstück.
Etwas schneller lief Ria die Treppe hinab. Die Sonne drang durch das Buntglasfenster und tauchte das Treppenhaus in gedämpftes Licht. Der Widerstand der Stufen unter ihren Füßen fühlte sich vertraut an. In Windeseile hatte Ria den zweiten Stock erreicht, in dem ihr eigenes Zimmer gelegen hatte.
Auf dem Treppenabsatz verharrte sie und sah auch diesen Gang hinunter. Wie im oberen war alles ruhig. Lilys blau gestrichene Tür zog sie wie magisch an. Direkt davor blieb sie stehen und lauschte. Aber nur ihr eigener, hektischer Atem war zu hören. Wie in Trance streckte sie die Hand nach der Türklinke aus. Ihre Fingerspitzen berührten das Metall. Ein Ruck ging durch Ria und sie wandte sich ab. Was, wenn Lily wirklich dort war? Was, wenn sie es nicht war? Sie war noch nicht bereit, sich Lily zu stellen.
Auf Zehenspitzen lief sie zu ihrem eigenen Zimmer und trat ohne zu zögern ein. Ihre wenigen Habseligkeiten waren auf dem Bett ausgebreitet, das Buch Beginn des Phönixzeitalters aufgeschlagen. Es schmerzte und freute sie zugleich, die vertrauten Illustrationen zu sehen. Die aufgeschlagene Seite zeigte den Beginn des Kapitels zur Wiedergeburt. Wer hatte wohl dort nach Antworten gesucht? Wer hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben?
Sie legte eine Hand auf das Buch und atmete tief durch. Es war tatsächlich geschehen. Hier war sie, obwohl sie eigentlich tot sein sollte. Anders als so viele Phönixalati vor ihr war Ria wiedergeboren worden.
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Wie Rias Geschichte weitergeht, erfahrt ihr in „Schattenschwinge – Teil 2 der Vogelwandler-Dilogie“ in der zweiten Jahreshälfte 2022.

frohe Weihnachten